Meine Erlebnisse mit Saito Sensei

Der Alltag im Iwama-Dojo

Die Anfangszeit in Japan war voll von neuen und besonderen Eindrücken. Mir fremde Traditionen und Verhaltensweisen mussten schnell gelernt werden, um im Dojobetrieb einigermaßen bestehen zu können. Wöchentlich kamen neue Aikidoschüler aus aller Welt, viele blieben nur wenige Wochen oder sogar nur Tage. Ich hatte mich schon gut in den Tagesablauf eingelebt und konnte das Ritual der Neuankömmlinge mit etwas Abstand beobachten. So entstanden humorvolle Situationen, die auf die heran Reisenden aber  eher befremdlich und verwirrend wirkten. Japan ist ein Ort, in dem sich der Alltag auf den zwei Ebenen „unten“ und „oben“ abspielt.
„Unten“ ist auf dem Boden, draußen auf der Erde, in der Straße und so mit Schmutz und Unreinheit verbunden. „Oben“ ist im Haus, immer eine Stufe höher, weg vom Schmutz der Straße. Es ist der Ort der Tatamis, der Reismatten, auf denen man sitzt, schläft und an niederen Tischen die Mahlzeiten zu sich nimmt. Die Reismatten dürfen also nie mit Schuhen oder Dingen der Straße berührt werden. Objekte, die die untere Ebene berühren, dürfen nicht auf die obere Ebene gelangen.
So gab es zwei besondere Erfordernisse, die bei der Ankunft neuer Schüler zu beachten waren. Ermüdet von den langen Reise aus Europa, Asien, Australien oder den USA, kamen viele Schüler zum ersten Mal im Dojo in Iwama an. Mit den Koffern in den Händen standen sie vor dem Dojo; oft zu einer Uhrzeit, da Saito Sensei Unterricht gab. Sensei war hocherfreut, bekannte Gesichter zu sehen und lachte ihnen willkommen heißend entgegen und sie stellten ihre schweren Koffer draußen auf die Erde. Sogleich veränderte sich die Situation. Sensei schrie die Neuankömmlinge plötzlich an, die völlig perplex reagierten, weil sie nicht wussten, dass die Koffer, die ins Haus auf die Tatamis kamen, nicht draußen auf die Erde gestellt werden durften.Wir Uchi-Deshi sprangen dann schnell aus dem Dojo und hoben die Koffer hoch. Sogleich war Saito Sensei wieder freundlich und zuvorkommend. Die Koffer mussten an der Stellfläche abgewaschen werden und durften erst dann im Haus auf die Tatamis gestellt werden. Ähnliche Situationen boten sich, wenn die Ankömmlinge in das ehemalige Wohnquartier O’Senseis geführt wurden. Für uns Eingeweihte waren die Situationen vorhersehbar und manchmal auch amüsant, für Nichteingeweihte ergaben sich oft peinliche Lehrstunden.
Da gab es also die Stufe hinauf zu den Tatamis, die nicht mit Schuhen betreten werden durfte. Trat also einer der Neuen mit seinen angezogenen Schuhen im Haus auf die höhere Stufe, gab es sofort Geschrei von Sensei, der die Situation genau beobachtete. Bestürzt sprang der Betroffene auf den Lehmboden zurück und es wurde ihm erklärt, dass die obere Stufe nicht mit den Straßenschuhen betreten werden dürfe, woraufhin dieser sofort seine Schuhe auszog. So stand er nun in seinen Strümpfen auf dem Lehmboden, was wiederum das Geschrei von Sensei zur Folge hatte, da ja nun die Strümpfe mit der Erde in Verbindung gebracht worden waren und diese dann die Tatamis verschmutzen. Oft verzweifelt standen nun die neuen Schüler da und wussten weder vor noch zurück. Es blieb also nur, die Socken auszuziehen und so standen dann viele barfuß unten auf der Erde und wieder kam Senseis Empörung zum Ausdruck. Es half alles nichts – die Füße mussten gewaschen werden ohne nochmals die Erde zu berühren, um dann sauber auf die obere Plattform zu gelangen.
So ergaben sich die ersten Lehrstunden für die Neuen und waren sie überstanden, so hatten sie etwas für den japanischen Alltag Wichtiges gelernt. Am darauffolgenden Tag gab Saito Sensei ein Willkommensfest für die neuen Besucher – die peinlichen Erlebnisse des Abends zuvor wurden nie zum Thema gemacht und waren vergessen.

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